08.11.2022

Vergnügt, aber moralisch bankrott

Vergnügt, aber moralisch bankrott
Waldorfschüler werfen mit Brechts Dreigroschenoper einen skeptischen Blick in die Zeit
„Nur dadurch lebt der Mensch, dass er so gründlich vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist.“ Solche nachdenklichen Brecht-Sätze, vom Chor der „Dreigroschenoper“ stimmgewaltig intoniert, ertönten Ende Oktober in zwei gut besuchten Aufführungen im Festsaal der Waldorfschule. Vor einer rauen Kulisse aus dunklen LKW-Planen, Graffiti-Sprüchen und notdürftigen Möbeln aus Pallettenholz versetzte die spielfreudige Schauspieltruppe die Zuschauer in die Londoner Unterwelt um 1840 – ein Ausflug in die Frühzeit des Kapitalismus. Zwischen den führenden Verbrechern Macky Messer und Jonathan Jeremiah Peachum, der mittels einer Horde von Bettlern am klug geschürten Mitleid verdient, spitzt sich eine alte Rivalität zu. Denn die lebenslustige Polly, Tochter des Ehepaars Peachum, heiratet den eleganten, aber unberechenbaren „Mac“ heimlich, obwohl dieser den wöchentlichen Besuch im Hurenhaus (herrlich ausgespielt von einer Truppe leicht bekleideter Damen!) nicht lassen kann.

Der Mensch als Ware
Bertolt Brecht, dessen steiler Aufstieg als Dramatiker 1928 mit der Dreigroschenoper begann, versteht es, Gesellschaftskritik mit einer unterhaltsamen Handlung und skurrilen Figuren zu verbinden. Dass der Mensch im Zeitalter des Kapitalismus zur Ware verkommt, das erlebt das Publikum nicht nur an den von Peachum dirigierten Bettlern wie Filch. Er muss sich umziehen, „weil einem niemand sein eigenes Elend glaubt“. Die Hochzeit mit Polly findet in einem kurzerhand besetzten Pferdestall statt und unter den halbseidenen Festgästen ist auch der Londoner Polizeichef Brown. Er ist seit seiner Jugend mit Mac befreundet oder besser: durch Korruption liebevoll verbunden. Ob es unter diesen Umständen Peachum schafft, Macky Messer der Polizei auszuliefern und ihn an den Galgen zu bringen, darf bezweifelt werden.

Liebesdrama und Politsatire
Maria Radetzki als Regisseurin gelingt es eindrucksvoll, die besondere „Oper“ mit den einprägsamen Songs des Komponisten Kurt Weill in der Schwebe zwischen Liebesdrama, Gesellschaftsgemälde und Politsatire zu halten. Mal wird derb übertrieben, wenn sich Mac – immer im schwarzen Anzug, mit Hut und Stock samt Elfenbeinknauf – bei der Hochzeitsfeier von seiner Ganoventruppe um Münz-Matthias etwas „Ergötzliches“ wünscht, aber die Revolversprache nicht ablegen kann. Oder wenn Frau Peachum im energischen roten Kostüm ihrer Tochter Polly als „Verbrecherschlampe“ die Ohren langzieht. Daneben gibt es auch poetische und zarte Töne rund um Polly. Töne, die das Herz berühren, auch wenn sich Brechts Gestaltungsmittel seines „epischen Theaters“ – etwa die Szenentitel und manch kommentierender Song – eher an den Kopf wenden.

Erstaunlich, wie stimmsicher die vielen Solisten an ihren Mikros oder der Chor auf der Empore sind, von Miquel Marigó virtuos am Klavier begleitet. Die einprägsamen Melodien klingen mit ihrer politischen Botschaft noch nach, wenn man den Saal nach knapp zwei Stunden verlassen hat: „Und die einen sind im Dunkel und die andern sind im Licht, und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Brecht, ein bibelkundiger Humanist und Revolutionär, hat uns noch heute, so scheint es, etwas zu sagen.

Holger Grebe (Oberstufenlehrer)

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