14.01.2019

Buchpräsentation

von Holger Grebe

„Wem als Lehrer die Verwandlung des bewertenden Blicks gelingt, der hat seine pädagogische Prüfung bestanden!“

Holger Grebe hat ein Buch zum Prüfungswesen geschrieben und führt uns zu Wertschätzung, Wohlwollen, liebevoller Wahrnehmung

Survival oft the fittest

„Survival oft the fittest“ – bis heute wird Charles Darwins Evolutionstheorie als großer Wettbewerb gedeutet. Über Europa hin und die Welt hat sich dieser Gedanke etabliert und manche Eltern stellen schon im Kindergarten die Frage, ob das Kind diesem Wettbewerb wohl gewachsen sein würde. Schule legitimiert sich so. Das sagt Prof. Dr. M. Michael Zech von der Pädagogischen Forschungsstelle für Waldorfpädagogik in Kassel. Dort ist die Essay-Sammlung „So lass ich mich nicht prüfen! Plädoyer für die Verwandlung des bewertenden Blicks“ von Holger Grebe mit treffenden feinsinnigen Illustrationen von Klaus-Martin Grebe erschienen.

Selbstanspruch des Individuums

Michael Zech, der nach der charmanten Begrüßung durch Natalia Aculova den Impulsvortrag zur Autorenlesung hält, kongenial von Christian Eichhorn auf dem Akkordeon begleitet, spricht einen Leistungsgedanken aber auch der Waldorfpädagogik nicht ab. Allerdings einen, der aus dem Selbstanspruch des Individuums abgeleitet ist und nicht aus einer Standardisierung. Ist man damit allen Herausforderungen des Lebens gewachsen? Nein, sagt Zech, jeder sei ein werden wollendes Wesen, das denkend die Welt erfasst und ständig in sich einen Anspruch trägt. Die Begegnung mit der Welt und mit diesem Anspruch führe zur Ausbildung der Persönlichkeit.

Flüssiges Denken

Solche und andere Anstöße, darunter auch Anstößiges, nimmt Holger Grebe in seinen Blick und zwar durchaus gegen etablierte Prüfungsverfahren. Er hat ein engagiertes, scharf- pointiertes, zuweilen unbeugsames, wie feinfühliges und schönes Buch geschrieben. Zu dessen Präsentation haben sich am 24. November 2018 gut 150 Besucher im Festsaal der Balinger Waldorfschule eingefunden: SchülerInnen, ehemalige Schulmitglieder, Schülereltern, Grebes große Familie, KollegInnen aus Nah und Fern, darunter Barbara Walther für die Deutschlehrertagung des Bundes der Freien Waldorfschulen. Sie spricht das Grußwort und schnell wird klar, wie nah sie dem Duktus des Buches mit seiner Betonung des Prozesshaften, Ereignisreichen im Kontrast zum Fertigen, zum Ergebnis steht. Es ist das flüssige Denken, nicht das formalistische oder automatisierte, das zur Reife führt. „Vom Werk zur Skizze“, und nicht etwa umgekehrt, war auch der Titel einer gemeinsam entwickelten Deutschlehrertagung der bei den Oberstufenpädagogen.

Leistungsbewertung im pädagogischen Raum

Holger Grebe beginnt seine Lesung mit der Frage, welche Rolle Prüfungen in unserem Leben spielen würden oder gespielt hätten. Dabei nähert er sich dem Phänomen mit Kinderaugen und nicht mit müdem Juristenblick. Er stellt fest, dass Prüfungen oft den Charakter einer Initiation haben würden, und fragt, woher sie wohl kommen. Er zieht Querverbindungen zur chinesischen Beamtenprüfung zwischen 600 und 1900 n. Chr. Und er zitiert einen Schulmann der Weimarer Republik, der das Abitur in seiner „kulturlosen Flachheit!“ charakterisiert. Die „vornehme Aufgabe der Leistungsbewertung“ sieht Grebe durch das Korrekturritual bedroht. Qualitäten (Lernprozesse) würden sich in Quantitäten (Noten) wandeln und mancher Prüfer degeneriere so zur Korrekturmaschine. Leistungsbewertung muss für Holger Grebe wieder in den pädagogischen Raum zurückgeholt werden. Sein Vorschlag: Eine Beteiligung der SchülerInnen am Bewertungsprozess, etwa in der Praxis einer Portfolio-Kultur, die ein Abgleichen von Selbstbild und Fremdbild fest verankere und die SchülerInnen nicht zu Opfern der Benotung mache. Auch LehrerInnen könnten, wie es an manchen Schulen üblich sei, so auch in Balingen, lernen, indem sie regelmäßig beieinander hospitieren und in geschwisterlicher Geste zurückspiegeln würden, was sie bei der Kollegin bzw. dem Kollegen sehen und erleben würden.

Ein Buch, das öffnet

„So lass ich mich nicht prüfen!“ ist ein Buch, das öffnet, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Es öffnet den Diskurs durch ständigen Perspektivenwechsel, indem es Haltungen bezieht, an denen man sich reiben kann oder die der eigenen Argumentation dienen. Vor allem öffnet es, indem es Fragen stellt, Fragen, die sich Holger Grebe auch aus seiner jahrelangen Tätigkeit auch als Prüfungslehrer gestellt haben. Es öffnet, weil der Autor sich in seinen Positionen bewusst auch angreifbar macht, genauso wie tiefe Anteilnahme an den menschlichen Schicksalen und Biografien spürbar wird. Es delegiert nicht, weist nicht zu, sondern argumentiert aus einem Wir-Gefühl heraus und – es öffnet nicht zuletzt sich selbst durch die breit angelegten Bezüge aus der Juristik, der Psychologie, der Kulturgeschichte und einer tiefgreifenden Ich-Reflexion für alle LeserInnen.

Eine Spur Glückseligkeit

In seiner eigenen Prozesshaftigkeit bei einem gleichzeitig formal klaren Aufbau, im eigenen wertschätzenden Blick ist das Buch auch ein Plädoyer für gelebte Toleranz geworden, für eine Haltung, die Andersartigkeit zulässt. Und so liegt in einer möglichen Zerreißprobe im Spannungsfeld zwischen Prüfung und Ich-Pädagogik auch eine Spur Glückseligkeit.

Stefanie Gottfried (L)

 

Holger Grebe, So lass ich mich nicht prüfen!
Plädoyer für eine Verwandlung des bewertenden Blicks
Kassel 2018 (Edition Waldorf)
ISBN 978-3-939374-37-4

Leseprobe als PDF

 

 

Fotos:
Hans-Georg Zimmermann
Clara Stingel
Christoph Holbein / Schwabo

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